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ARCHIV HUMBOLDT LAB DAHLEM   (2012-2015)

Paradies der Kopfjäger / Projektbeschreibung

Umgang mit einem ungewöhnlichen Erbe

von Roland Platz und Andrea Rostásy

Die Naga erlangten als Kopfjäger vor über hundert Jahren große Berühmtheit und wurden vom Westen als wilde Krieger stilisiert. Ein erbeuteter Kopf als Trophäe war für sie der Beweis, als Krieger erfolgreich gewesen zu sein, und wurde mit einem rituellen Fest gefeiert. Noch für die 1990er Jahre sind vereinzelte Fälle von Kopfjagd dokumentiert. Heute präsentieren sich die Naga als eine vielfältige und in Teilen moderne, urbane Gesellschaft, die hauptsächlich im indischen Bundesstaat Nagaland lebt. Spuren der einstmaligen Kriegergesellschaft sind auch jetzt noch sichtbar. Die Kopfjagd ist kein Tabuthema und bei vielen Naga schwingt ein gewisser Stolz mit, wenn sie über ihre Vergangenheit als gefürchtete Krieger sprechen. Jedes Jahr wird in der Hauptstadt Kohima das Hornbill-Festival, das größte Kulturfestival der Naga gefeiert, in dem Erinnerungen an alte Traditionen wachgerufen werden.

Das Ethnologische Museum beherbergt etwa 1500 Naga-Objekte von herausragender Qualität und vergleichsweise hohem Alter, wie sie in Nordostindien selbst kaum mehr anzutreffen sind. Besonders WissenschaftlerInnen unter den heutigen Naga schätzen dieses Erbe, das in den Museen bewahrt werden konnte. In Zukunft wird es auch darum gehen, die Sammlung für interessierte Naga stärker zu öffnen und eine Basis der Zusammenarbeit zu finden. Im Rahmen des Moduls über ethnische Minderheiten aus Südostasien sollen die Naga auch im Humboldt-Forum Thema sein.

Wie kann dieses ungewöhnliche Erbe im Museum präsentiert werden? Das Projekt „Paradies der Kopfjäger“1 untersuchte, wie das Kulturphänomen der Kopfjagd kuratorisch wie gestalterisch präsentiert werden kann, ohne in Exotismus zu verfallen, ohne zu verharmlosen und ohne den Blick einzuengen. Zentraler Ausgangspunkt der Überlegungen hierzu war, dass die heutigen Naga in der Ausstellung selbst zu Wort kommen und ihre Vorstellungen kundtun. Wie sprechen sie selbst über ihre Vergangenheit als gefürchtete Kopfjäger? Welche Bedeutung hat diese für sie heute? Und warum waren Schädeltrophäen für ihre Vorfahren so wichtig?

Ziel war es, einen Zugang zu schaffen, der die unterschiedlichen Stimmen und Zeugnisse der Naga nebeneinanderstellt und den Blick öffnet. Werden sich die BesucherInnen vor dem Hintergrund des vermittelten Wissens und der dargelegten Ansichten der Naga dem Phänomen der Kopfjagd differenzierter, weniger vorurteilsbeladen oder exotisierend nähern können?

Ein differenzierter Zugang in Materialproduktion und -anordnung

Im Rahmen des Projekts besuchte der Kurator Roland Platz zunächst Nagaland und führte dort zahlreiche Audio- und Videointerviews durch. Bauern waren genauso vertreten wie WissenschaftlerInnen, LehrerInnen oder Pastoren. Es war von Anfang an klar, dass das entstandene Material zusammen mit im Museum vorhandenen historischen und aktuellen dokumentarischen Materialien für die Ausstellung verwendet werden sollte. Wissenschaftlich beraten wurde Roland Platz von Vibha Joshi Parkin, Ethnologin und langjährige Naga-Forscherin, Universität Oxford, zurzeit Gastdozentin für Ethnologie an der Universität Tübingen, die ihm auch zahlreiche Kontakte nach Nagaland ermöglichte, unter anderem zum Kohima Institute. In Nagaland begleitete ihn Pangernungba Kechu, Dozent am Institut für Orientalische Theologie, Dimapur, Nagaland, der auch bei den meisten Interviews dolmetschte. Der Fotograf Edward Moon-Little dokumentierte viele der Begegnungen.

Die Agentur Luxoom Medienprojekte wurde in einer kleinen Ausschreibung ausgewählt, um auf der Basis des während der Reise entstandenen, aber auch des bereits vorhandenen Materials sowie ausgewählter Objekte eine begehbare Rauminstallation zu schaffen. Sie entwickelten dafür eine Materialanordnung, in der die Filme, Fotos, Tonaufnahmen, Texte und Objekte unterschiedliche aktuelle wie historische Perspektiven auf die Kopfjagd eröffneten.

Komplexität im Raum

Wer die räumlich vorgegebene Eingangsschleuse zur eigentlichen Ausstellung durchquert hatte, fand sich in einem Raum, der nicht sofort zu dechiffrieren war. Von einem horizontal verspannten Draht- und Hanfseilsystem auf drei Metern Höhe waren sämtliche Fotos, Textpanele, Screens und Kopfhörer sowie Spiegel vertikal mit roten Fäden abgehängt. Dadurch entstand eine Art Collage im Raum mit vielen sich kreuzenden Linien – den Seilen sowie Ein- und Durchblicken auf das gestaffelte Material. Die komplexe Hängung lud die BesucherInnen ein, sich zu bewegen und Perspektiven zu bilden, in denen sich Bilder und Zitate mit den Spiegelungen ihrer selbst und den Objekten in den Vitrinen verbanden. Je nach Standpunkt spiegelten sich Materialien und BesucherInnen zudem in den Vitrinen und es entstanden immer wieder neue Konstellationen, Überlagerungen und Einblicke.

Zentral fiel der Blick auf eine große Projektion, die ein fünfminütiges Interview mit einem alten Naga-Kopfjäger und seiner Frau zeigte. Sie sprachen als Augenzeugen und ihre Erzählung war durch den offenen Ton im ganzen Raum präsent. Links und rechts davon leuchteten Daos (Schwerter) und Panji-Körbe (Kriegerkörbe) in den Vitrinen – Objekte, die zur Kopfjagd verwendet wurden. Die Wegführung leitete die BesucherInnen in einem Rundgang um die Vitrinen herum auch an zwei Audiostationen entlang, in denen kurze Ausschnitte aus Interviews mit einer Lehrerin an einer kirchlichen Schule und einem Jugendpastor zu hören waren. An der Stirnseite des Raums fächerte sich eine komplexe Anordnung aus zahlreichen über das Seilsystem gestaffelt abgehängten Fotografien auf, die historische und aktuelle Bilder aus Nagaland zeigten. In den in die Anordnung integrierten Spiegeln sahen sich die BesucherInnen immer wieder selbst inmitten der Materialien im Raum. Weißes und rotes Licht setzte Akzente auf verspannte Seile und Fotografien in dem ansonsten nur von Filmen und Vitrinenlicht erhellten Raum. Auf der hintersten Ebene der Staffelung zeigte eine zweite große Projektion historische Zitate in Kombination mit Ausschnitten der aktuellen Interviews als Texte und eröffnete so einen weiteren Zugang. Ließen die BesucherInnen die Anordnung mit Fotografien hinter sich, stießen sie auf einen kleinen Screen mit Passagen aus einigen Videointerviews sowie aus einer aktuellen filmischen Dokumentation des Hornbill-Festivals. Durch die Kürze des als Loop angelegten Materials konnten diese Filmsequenzen fast im Vorübergehen angesehen werden. Der Weg über die Längsseite des Raums führte schließlich auf eine dritte Projektion zu, die Aufnahmen eines Festes mit Elementen aus Kopfjagdtänzen von 1936/37 zeigte. Danach endete der Weg bzw. schloss sich der Kreis zum Anfang – vervollständigt durch eine Tafel zur Sammlungsgeschichte der Naga-Objekte im Ethnologischen Museum in Berlin – und entließ die BesucherInnen wieder Richtung Eingangsschleuse zurück in die weitläufigen Räume des Museums.

Perspektiven in der Bewegung erfahren

Die Installation ermöglichte durch die leichte, temporär wirkende Hängung und die darin angelegte Bewegung der BesucherInnen im Raum die Wahrnehmung einer Gleichzeitigkeit der Stimmen, die nicht wertete und einen Gedankenraum entstehen ließ. Es entwickelte sich so eine Offenheit der Perspektiven, die die dramaturgisch gezielt in die Mitte des Raums platzierte Erzählung des alten Kopfjägers und seiner Frau in Beziehung zur gesamten Materialanordnung und nicht zuletzt konkret zu den Stimmen der Naga heute setzte. Dieser in der Konzeption entwickelte Ansatz wurde bereits im Vorfeld präzise visualisiert und diente als Grundlage für die anspruchsvolle Umsetzung.

Auf Einladung des Humboldt Lab und von Roland Platz besuchten Zubeni Lotha, eine Fotografin, Künstlerin und Wissenschaftlerin, Pangernungba Kechu sowie Vibha Joshi Parkin und Edward Moon-Little im September 2015 die Ausstellung „Paradies der Kopfjäger“ und auch die Naga-Sammlung im Depot des Ethnologischen Museums. Den Blick und die Reflexion von heutigen Angehörigen der Herkunftskultur einzubeziehen, ist ein wichtiger Schritt für die Weiterentwicklung des Projekts im Humboldt-Forum.

Bereits während der Aufbauzeit der Installation wurde deutlich, dass es lohnend wäre, das entstehende Potenzial für eine Dauerausstellung weiter zu bearbeiten. Das Prinzip der Hängung könnte beispielsweise so weiterentwickelt werden, dass die Materialien daran leicht und flexibel verschiebbar sind. Dadurch wäre eine Vermittlung möglich, die thematische Setzungen erlaubt und die BesucherInnen involviert. Auch die in der Installation explizit angelegten Redundanzen von Bild-, Ton- und Textmaterial, die Inhalte auf mehreren Zugangsebenen anbieten, könnten unter den Anforderungen des „design for all“ (Thema „Inklusion und Barrierefreiheit“) weitergedacht werden.

Für die Entwicklung der Präsentation des Themas „Kopfjagd bei den Naga“ im Humboldt-Forum kann das Projekt in der vorliegenden Form inhaltlich wie gestalterisch sicher Inspiration, vielleicht sogar Ausgangspunkt sein.


1 Mit dem Titel der Ausstellung wird eine aus christlicher Perspektive entstandene Bezeichnung aufgegriffen: Ein Gedenkstein in dem Ort Molung Kimong erinnert an christliche Missionare, die in den 1870er Jahren „The First Gospel Gate into the Headhunters Paradise“ („das erste Gospeltor zum Paradies der Kopfjäger“) eröffneten.


Dr. Roland Platz ist seit 2009 Kurator für Süd- und Südostasien am Ethnologischen Museum in Berlin. Nach dem Studium der Ethnologie und Soziologie in Freiburg und längeren Forschungsaufenthalten in Nordthailand folgten mehrjährige freiberufliche Tätigkeiten als Dozent, Trainer und Journalist. Sein besonderes Interesse gilt den Minderheiten Südostasiens und den damit verbundenen Identitätsfragen.

Andrea Rostásy ist bildende Künstlerin und Medienkuratorin. Seit 1995 arbeitet sie an der konzeptionellen Gestaltung und Realisierung medialer Inszenierungen für kommerzielle Projekte und Ausstellungen weltweit und ist seit 2013 für das Humboldt Lab Dahlem an Projekten beteiligt, beispielsweise in der Projektleitung für „Reisebericht“ und „Verzauberung / Beauty Parlour“.


Weiterführende Texte zu diesem Projekt finden Sie hier.